#18 Nackt und schreiend auf der Bühne

Shownotes

Ein Bub mit verkrüppeltem Bein wird zum Krebskranken, und am Ende verlässt er die Bühne nicht geheilt, sondern er stirbt: So hat der norwegische Regisseur Stefan Herheim die Oper „Amahl und die nächtlichen Besucher" von Gian Carlo Menotti inszeniert und damit in einem Ausmaß verändert, dass die ursprüngliche Kernaussage verloren gegangen ist. Hier setzt die Kritik des Musik- und Theaterwissenschaftlers Edwin Baumgartner am Regietheater an, wenn er dieses im Gespräch mit Host Petra Tempfer als „einfach zu viel" bezeichnet.

Regie und Stück werden zu Konkurrenten. Mittlerweile gehe es sogar so weit, dass die Inszenierung über alles gestellt werde: Das Schauen ist Trumpf, der Text nur noch ein Beiwerk der Regie. Ohne nackte und schreiende Menschen auf der Bühne, die furzen, ihre Notdurft verrichten und/oder – zwecks Abwechslung – masturbieren, geht es schon gar nicht mehr, überspitzt ausgedrückt.

Es kann aber auch funktionieren. Und zwar dann, wenn die Ideen des Regisseurs oder der Regisseurin mit dem Grundgedanken des oder der Autor:in übereinstimmen, sagt Edwin Baumgartner. Dem Regisseur Patrice Chéreau sei das zum Beispiel mit Richard Wagners Oper „Der Ring des Nibelungen" gelungen. Warum? Nicht die Provokation stehe im Vordergrund, sondern die Interpretation.

Weiterführende Links:

Vom Regietheater wenig überzeugt war man schon vor fast 100 Jahren. Die Wiener Zeitung schrieb am 24. Juni 1930 über den 3. internationalen Schauspielkongress in Wien auf Seite 7:

Die letzten Jahre brachten der Genossenschaft deutscher Bühnenangehöriger neue und schwere Aufgaben. War schon in den letzten vier Jahren eine Reihe von sogenannten Inflationstheatern nach und nach verschwunden, so griff die Abbaubewegung in den letzten beiden Spielzeiten bereits an traditionsverwurzelte Theaterbetriebe, um in den letzten Etatberatungen der Gemeinden und Länder die Fortführung fast aller Theater zumindest in ihrem bisherigen Umfang in Frage zu stellen. Die Genossenschaft deutscher Bühnenangehöriger bewies in fruchtbarer praktischer Arbeit, dass in erster Linie einer nachweislichen Unwirtschaftlichkeit in der Betriebsführung der Regietheater gesteuert werden müsse, bevor man zu anderen Maßnahmen schreitet [im damaligen Amtsdeutsch wurde das Verb steuern mit dem Genetiv verwendet, im heutigen Sinne grammatikalisch richtig heißt dieser Satz folgendermaßen: Die Genossenschaft deutscher Bühnenangehöriger bewies in fruchtbarer praktischer Arbeit, dass in erster Linie eine nachweisliche Unwirtschaftlichkeit in der Betriebsführung der Regietheater gesteuert werden müsse, bevor man zu anderen Maßnahmen schreitet, Anm.].

 

Amahl und die nächtlichen Besucher"/Stefan Herheim

„Ring des Nibelungen“/Patrice Chéreau, daraus Schmiedeszene aus „Siegfried“

„Ring des Nibelungen“/Patrice Chéreau, daraus Finale der „Götterdämmerung“/Patrice Chéreau

„Rusalka“/Martin Kusej

„Faust“/Martin Kusej

„Faust“/Gustav Gründgens und Peter Gorski

„Angela (A Strange Loop)”/Susanne Kennedy und Markus Selg

„Entführung aus dem Serail“/Calixto Bieto

 

„König Ödipus" von Sophokles war auch Thema unseres Podcasts „#5 Warum es kaum lustige Komödien gibt" mit Edwin Baumgartner zu Gast bei Host Petra Tempfer.

Oper als Unterhaltung war auch Thema unseres Podcasts „#2 Spaß an der Oper” mit Edwin Baumgartner zu Gast bei Host Petra Tempfer.

 

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